Herren über Leben und Tod

Einwurf des Chefredakteurs

»Einem Menschen wird man auf dem Weg zum Bäcker begegnen, aber niemals im Internet.«

Franz Josef Wagner, BILD-Zeitung

Normalerweise durchzucken BILD-Kolumnist Franz Josef Wagner seine Ideen erst auf dem Heimweg von der Kneipe. Diese hier muss ihm bei der Hinfahrt gekommen sein. So sei der ansonsten „Unzitierbare“ ausnahmsweise zitiert. Menschen, so lese ich ihn, erscheinen im Internet nicht als komplexe Wesen. Sondern als Nutzer, Nörgler, Wutbürger, Fans, Angeber, Besteller, Kündiger oder auch: Konsumenten.

Was das mit der Jagd zu tun hat? Nun ja, täglich konsumieren auch unzählige Jäger das Internet. Laden tausende Fotos von sich hoch. Darunter leider auch hunderte leb- und lieblos aufgetürmte Wildtiere. Kurzfristig steigern sie so den Ruhm unter ihresgleichen. Langfristig ruinieren sie so unser aller Legitimation. Denn mit jedem Tag, an dem die Datenflut respektloser Erlegerbilder und Schlumpschützenfilme auf Facebook und Youtube anschwillt, werden Jahre mühevoller Verbandsarbeit in den Staub getreten. Jeder waidwerkende Selbstdarsteller muss wissen: Er befindet sich längst im digitalen Panoptikum. Er wird konstant beobachtet. Er, sie, wir alle opfern unsere Freiheit auf dem Altar permanenter Erreichbarkeit. Das, was da so hektisch in der Tasche unseres Lodenmantels vibriert, ist keine ultrakurze Trendwelle. Es ist ein Tsunami. Die digitale Datenkrake ist allgegenwärtig – und verdammt hungrig. Auch wenn mancher es noch immer nicht glaubt: Es gibt keine Privatsphäre im Internet. Es gibt keine geschlossenen Foren. Wer seinen Jagdfreunden eine Trophäe zeigen will, sollte sie entweder zum Grillen einladen oder sich wenigstens an einen Wertekanon erinnern, den wir von unseren Vätern mal als „Waidgerechtigkeit“ ererbt haben.

Man muss die sozialen Netzwerke nicht lieben, aber man muss sie ernst nehmen: Die Filmplattform Youtube hat mehr als eine Milliarde Nutzer. Jede Minute laden diese für 300 Stunden Filme ins Netz. Die erscheinen in 71 Ländern, in 61 Sprachen. Das soziale Netzwerk Facebook wird monatlich von 1,5 Milliarden Menschen genutzt. Vor den Augen der zivilen Weltöffentlichkeit prallen dort bizarre Jagdkulturen aufeinander. Rumänische Gatterschweine sterben neben spanischen Haustauben. Handyvideos von der Singvogeljagd finden sich gleich über serbischen Flachschützen. Bachen sterben, Böcke rollieren, Füchse leiden – auf ein gutes Video kommen 20 üble – zugänglich für jedermann, überall und immerzu. Meist erscheint der Jäger dort als (muckender) Herr über Leben und Tod. Als Konsument seiner Mordlust. Selten als Genießer nachwachsender Rohstoffe oder eines schönen Sonnenaufgangs. Unser Glück ist, dass Franz Josef Wagner das Internet meidet. Unser Pech ist, dass auch er irgendwann in Rente geht. Wir müssen die neuen Medien langsam begreifen, bevor es zu spät ist.

Ihr
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Dr. Lucas v. Bothmer