Viel wird über die Schwarzwildrausche gemutmaßt. Dr. Egbert Gleich widerlegt mit aktuellen Erkenntnissen Mythen und Irrtümer rund um die Reproduktion vom Schwarzwild.
Schwarzwild ist eine der reproduktivsten und anpassungsfähigsten Schalenwildarten in unseren europäischen Wildlebensräumen. Aufgrund dieser Eigenschaften ist es schwierig, das Verhalten dieser Wildart für alle Zeiten oder regional zu verallgemeinern. Eine Telemetriestudie am Schwarzwild in einer Region des nordostdeutschen Tieflandes erbrachte diesbezüglich interessante Beobachtungen. Diese weisen auf Abweichungen vom manifestierten Wissensstand hin. So wird oft behauptet, dass die Leitbache in einer Rotte die Rausche auslöse. Diese These wurde durch das Verhalten zweier besenderter Wildschweine widerlegt.
Das verlockende Comeback
An einer Fanganlage zur Besenderung der Wildschweine wurden zu unterschiedlichen Zeiten eine ältere Bache und ein Keiler besendert. Die Bache führte zum Zeitpunkt der Besenderung vier etwa fünf Monate alte Frischlinge. Beide Wildschweine besuchten nach dem Besendern weiterhin die Fanganlage, in der sie gefangen und besendert wurden, zur Nahrungsaufnahme. Die Fanganlage wurde durchgängig mit einer Kamera überwacht. An dieser Stelle sei auch bemerkt, dass 17 von 18 mit Sendern versehenen Wildschweinen wieder in die Fanganlagen, in denen sie gefangen und besendert wurden, zurückkehrten und dort regelmäßig das Köderfutter aufnahmen. Angst vor der Anlage trat also nicht auf.
Keilerkonflikt
Dass adulte Wildschweine unterschiedlichen Geschlechts sich außerhalb der Paarungszeit meiden, ist bekannt und wurde auch durch eigene Beobachtungen bestätigt. Bei Anwesenheit älterer Keiler an den Fanganlagen mieden andere Schweine den Bereich. Spätestens jedoch bei Annäherung eines Keilers verließen sie meist fluchtartig den Fanganlagenstandort. Ebenso konnte eine Abneigung der älteren Bachen bei Annäherung einzelner Keiler festgestellt werden. Eine Kontaktaufnahme der männlichen Einzelgänger zu den Rotten wurde mit Drohgebärden und teilweise mit Angriffen durch die Bachen quittiert. Im zeitigen Frühjahr konnten anhand der Fotofallenbilder beide besenderten Wildschweine gleichzeitig an einer Falle beobachtet werden. Dem eigentlichen Verhalten in derartigen Situationen widersprechend wurde in diesem Fall die Annäherung des Keilers an die Rotte durch die Bache nicht unterbunden.
Rauschlose Leitbache
Typisches Werbungsverhalten des Keilers und das Duldungsverhalten eines Frischlings ließen den Schluss zu, dass einer der weiblichen Frischlinge sich in der Rausche befand. Da die Bache zum Zeitpunkt (Februar) der Kontaktaufnahme durch den Keiler hochbeschlagen war und zwei Monate später durch das Frischen im April von sieben Frischlingen diese Trächtigkeit bestätigte, konnte sie als Leitbache dieser Rotte nicht der Auslöser der Rausche sein. Die älteren Frischlinge hatten ein Lebendgewicht von etwa 25–30 kg und waren etwa 7–8 Monate alt.
In diesem Fall war es unmöglich, dass die Leitbache die Rausche ausgelöst hat. Somit war der Eintritt der Geschlechtsreife einhergehend mit einer entsprechenden Kondition eines rangniederen Rottenmitglieds der Auslöser der Paarungsbereitschaft innerhalb dieser Rotte. Anhand der Messpunkte, welche im Stundentakt die Standorte der beiden Wildschweine aufzeichneten, konnte die Anwesenheit des Keilers in unmittelbarer Nähe dieser Rotte zur gleichen Zeit bestätigt werden. Somit ist die Rausche weiterer weiblicher Frischlinge sehr wahrscheinlich. An diesem Beispiel ist erkennbar, dass es außer den festgelegten Vermutungen, die zu Regeln erhoben wurden, auch abweichende und von natürlichen Konditionen gesteuerte Vorgänge gibt.
Timing ist nicht alles
Eine weitere von den Regeln abweichende Beobachtung konnte bei einer älteren Bache gemacht werden. Es wird landläufig behauptet, dass es sich bei zu sogenannten Unzeiten frischenden Bachen meist um Frischlingsbachen handelt. Zusätzlich wird in diesem Zusammenhang auch noch fehlerhaftes jagdliches Verhalten durch die vorangegangene Entnahme einer Leitbache unterstellt. Dass es ebenso bei älteren Bachen vorkommt, dass diese außerhalb der Hauptrauschzeit paarungsbereit sind und im Ergebnis dessen zu sogenannten Unzeiten frischen können, kann durch die folgenden Beobachtungen bestätigt werden.
An einer Fanganlage besuchte eine etwa 6–8 Jahre alte Bache regelmäßig den Fallenstandort. Diese Bache lebte zu diesem Zeitpunkt solitär. Das Vorhandensein der Winterschwarte und ein sehr zögerlicher Wechsel des Borstenkleides, Ende Juli, hätte auf drei Ursachen schließen lassen können.
Eine vorangegangene Erkrankung bzw. Verletzung könnte derartige Verzögerungen des Haarwechsels hervorrufen. Auch eine Überalterung kommt als Ursache in Frage. Ebenso kann aber auch eine Trächtigkeit der Grund für den verspäteten Haarwechsel sein. Von einigen Jägern wurde Letzteres aufgrund des sichtbar höheren Alters ausgeschlossen. Die Kondition der Bache war jedoch sehr gut. So konnte eine zeitnah vorangegangene Erkrankung als Ursache für den verzögerten Haarwechsel eher ausgeschlossen werden. Wenn die These, dass es sich um eine Trächtigkeit handelt, zutreffend wäre, hätte das Konsequenzen für eine Besenderung. Die eventuelle Tragezeit dieser Bache war schwer einzuschätzen. Somit wurde von einem Fang mit anschließender Narkose dieser Bache abgesehen. Die Bache wurde jedoch trotzdem weiterhin beobachtet, denn sie kam regelmäßig zum ausgelegten Mais.
Frischlinge im Spätsommer
Im August vollzog sich ein sichtbarer Konditionszuwachs und in dessen Ergebnis erfolgte sehr dynamisch der Wechsel in die Sommerschwarte. Als Grund eine Trächtigkeit zu vermuten, wurde immer wahrscheinlicher. Am 02.09. besuchte die Bache den Fallenstandort und war sichtbar im Umfang reduziert. Auch ein Gesäuge war erkennbar. Beinahe einen Monat später, am 29.09., brachte diese Bache 12 im Wachstum ausgeglichene und gut konditionierte Frischlinge mit an und in die Fanganlage. Somit war in diesem Fall der Nachweis erbracht, dass es auch bei älteren Bachen zu einem Frischen außerhalb der üblichen Frischzeiten kommen kann. Diese Bache hatte phänotypisch Keilerformat. Im September rechnet kaum ein Jäger mit einer führenden Altbache dieses Kalibers, welche die Frischlinge noch nicht dauerhaft mitführt.
Denkt man weiter, ist es sehr wahrscheinlich, dass diese Bache bei schlechtem Licht und bei abgelegten Frischlingen als Einzeltier angesprochen und entsprechend erlegt worden wäre. An diesem Beispiel wird aber auch ersichtlich, dass eine genaue Ansprache und der Ausschluss aller Versagungsgründe besonders zu Unzeiten sehr wichtig sind. Die Möglichkeit einer Trächtigkeit außerhalb der Regelzeiten ist beim Schwarzwild keine Seltenheit. Durchgängig verfügbare Nahrung und milde Winter führen immer häufiger dazu, dass Wildschweine mehr als früher im gesamten Jahresverlauf reproduzieren. Hier wird auch deutlich, welchen Gewinn die Nachtsicht- und Nachtzieltechnik für die Verhinderung von Fehlerlegungen erbringt. Durch diese Bereicherung der technischen Ausstattung der Jäger wird eine qualitativ hochwertige Ansprache bei schlechten Lichtverhältnissen und in der Nacht überhaupt erst ermöglicht.
Altes Wissen
An beiden Beispielen aus der Wildbahn wird deutlich, dass tradiertes Wissen nicht immer Bestand haben kann, wenn sich die Rahmenbedingungen verändern oder es doch zumindest Ausnahmen gibt. Wie wichtig es ist, eine neuerliche Abklärung des Wissensstandes bei dauerhafter Veränderung der Umweltkonditionen vorzunehmen, zeigen auch weitere Telemetriestudien am Schwarzwild in den letzten Jahren. Die GPS-Telemetrie hat in vielen Fällen zur erheblichen Wissenskorrektur, aber auch Bestätigung vorhandenen Wissens geführt. Da man sich in diesem Bereich der Wissenschaft ausgesprochen intensiv mit der zu untersuchenden Wildart befassen muss, sind auch alle Beobachtungen im Zusammenhang mit der Besenderung wertvoll und für die jagdliche Betätigung wichtig.
Von der Regel abweichende Verhaltensweisen können schnell zur Regel werden, wenn sich die Bedingungen zu deren Auftreten dauerhaft manifestieren. Eine Vielzahl von Spekulationen auf der Grundlage noch nicht vollständig vorhandenen oder überholten Wissensstandes konnte durch belastbare Untersuchungen bereits richtiggestellt werden. Wildtiere und deren Verhalten besser zu verstehen, ist ein Gewinn für die betreffende Wildart und bringt dem Jäger mehr Sicherheit im Handeln.