Gibt es bei dem Menschen einen angeborenen Jagdtrieb?
Müssen wir jagen? JÄGER Redakteurin Dr. Nina Krüger erklärt die biologische Sicht auf den Jagdtrieb.
Die Frage, warum wir zur Jagd gehen, stellt sich uns immer öfter.Vor allem, weil wir uns rechtfertigen müssen – vor nichtjagenden Familienmitgliedern, Freunden oder Jagdgegnern.
Ein Teil unserer Mitmenschen kann nicht verstehen, was uns dazu bringt, im Mai schon um vier Uhr früh auf dem Hochsitz zu sitzen, unsere Wochenenden mit Revierarbeiten zu verplempern, wenn wir uns vom stressigen Alltag erholen könnten, und im Herbst hunderte Kilometer zu fahren, um am Abend mit zwanzig anderen bei Nieselregen eine einzelne Sau auf dem Streckenplatz zu bestaunen.
Jagdtrieb als Diskussionsargument?
Die Begründungen, die wir dafür vorbringen, sind so unterschiedlich, wie wir Jäger zahlreich sind. Wir sagen, dass wir jagen, weil wir das beste Fleisch auf dem Teller wollen, weil wir uns als Natur- und Tierschützer, als Heger begreifen, weil wir die letzten, modernen Menschen mit einem wahrhaftigen Naturverständnis sind oder einfach weil es uns Menschen im Blut liegt. Aber eigentlich fällt es fast jedem von uns schwer, in Worte zu fassen, was uns bewegt, wenn wir jagen. Teils, weil das Wirrwarr an Gefühlen nicht leicht zu beschreiben ist, teils, weil sich die Gefühle, die wir haben, sich in der Gesellschaft nicht mehr schicken, aber auch weil das, was wir verbal hervorbringen können, nie ganz dem entspricht, was wir nonverbal empfinden.
Jagdtrieb – Grundlage unserer biologischen Entwicklung
Auch wenn mich vor nicht allzu langer Zeit eine vegan lebende Spiegel-Bestsellerautorin in gemischter Runde bei einem schicken Hamburger Italiener leicht hysterisch der Verbreitung von Propaganda-Lügen bezichtigte, gilt es unter Anthropologen und Evolutionsforschern als wenig umstritten, dass sich unser großes Gehirn und damit unsere intellektuellen Fähigkeiten, die den Homo sapiens von anderen Tieren unterscheidet, nur mit steigender Proteinzufuhr in prähistorischen Zeiten entwickeln konnte.
Weitere Merkmale
Viele weitere Merkmale sprechen für eine Ernährung, die zu mindestens einem Drittel tierischen Ursprungs gewesen sein muss – unsere Zähne, unser Verdauungsapparat, die Tatsache, dass wir nur aus tierischer Nahrung genug Vitamin B12 aufnehmen können, um die Anlage sowie den Erhalt eines funktionierendes Nervensystem zu gewährleisten. Einige Wissenschaftler glauben sogar, dass die Vorfahren des modernen Menschen, die Fähigkeit zu jagen, viel früher erwarben, als bisher angenommen (vor 300.000 Jahren) – nämlich schon vor rund zwei Millionen Jahren.
Unser Jagdtrieb – Ein hohes Risiko, aber auch ein hoher Gewinn
Hätten die Vorfahren des modernen Menschen (Homo habilis) damals die Reste und Überbleibsel von Löwen und Hyänen als Nahrungsgrundlage genutzt, müsste sich bei den Knochenfunden aus dieser Zeit, die Spuren von menschlichem Einfluss aufweisen, die gleiche Verteilung von Alter und Geschlecht der Beutetiere wie bei den tierischen Jägern finden. Die fossilen Funde zeigen aber, Menschen hatten schon damals ihren eigenen Geschmack und jagten ganz anders als ihre Beutekonkurrenten. Wie bei jedem neuen, zufällig entstehenden Merkmal oder Fähigkeit wird von den Regeln der Evolution abgewogen, ob der Nutzen die Kosten überwiegt.
Vorteile der Jagd
Jagd zum Beispiel bringt zwar den Vorteil hochwertiger, kalorienreicher Nahrung, birgt aber das Risiko, so frühzeitig unter die breiten Füße eines Mammuts zu geraten, dass nicht die Chance besteht, seine jagdaffinen Gene weiterzugeben. Im Großen und Ganzen müssen sich also die erfolgreichsten Jäger so bevorzugt fortgepflanzt haben, dass wir zur vermutlich einflussreichsten Säugetierart der Erdgeschichte wurden.
Jagdtrieb und Jagdstrategien
In welchen Zusammenhang sich unsere außerordentlichen Fähigkeiten zur Jagd entwickeln konnten, darüber scheiden sich die Geister. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts glaubte man, dass der Jagdtrieb dafür verantwortlich war, dass wir bessere Jagdstrategien und Werkzeuge entwickelten, wofür wir wiederum ein größeres, differenzierteres Gehirn brauchten, um nicht zuletzt mit Hilfe von Sprache koordiniert zum Jagderfolg zu kommen. In den 1980ern verlor diese Theorie allerdings an Beliebtheit, und Wissenschaftler begannen zu argumentieren, dass unsere komplexe Sozialstruktur und die Notwendigkeit zur Kooperation untereinander einfach besser mit großen Gehirnen funktionierte und deshalb dahingehend selektiert wurde. Erst mit einem ausreichend großen Gehirn begannen dann unsere aasfressenden Vorfahren auch besser zu jagen.
Jagdtrieb – das bedeutet Schweiss, Schmerz und Glück
Wie auch immer sich unser Drang zur Jagd entwickelt haben mag, er war von entscheidendem Vorteil. Wer sich einmal – wenn auch nur in einer Reportage – angesehen hat, wie Naturvölker noch heute jagen, bekommt eine ungefähre Vorstellung davon, wie es vor ein paar Hunderttausend Jahren zugegangen sein mag. Nicht nur die körperlichen Anstrengungen, Entbehrung, Schweiß und Schmerz lagen vor dem Festmahl mit der Sippe, sondern auch die reale Chance, auf dem Weg dorthin selbst zur Beute zu werden oder es mit dem Unwillen der potentiellen Mahlzeit zutun zu bekommen.
Großes Nahrungsspektrum
Spätestens nach dem zweiten oder dritten erfolglosen Zug auf eine Herde Zebras müssten sich unsere Vorfahren eigentlich dafür entschieden haben, dass Nüsse und Wurzeln doch gar nicht so schlecht schmecken, hätten damals nicht schon einige weitere entscheidende Entwicklungen stattgefunden. Zum einen waren die verstandesmäßigen Fähigkeiten der Menschen so weit entwickelt, dass sie erkennen konnten, dass sie mit sehr viel mehr Enthusiasmus empfangen wurden, wenn sie der Sippe Fleisch statt ein paar mickriger Kräuter brachten.
Jagdtrieb als Belohnungstrieb
Zum anderen aktivierte die körperliche Anstrengung und der Jagderfolg das Belohnungssystem im Gehirn, das mit der Ausschüttung des gemeinhin als Glückshormon bekannten Dopamin motivierte. Damit nicht genug, wurde der Jagderfolg in der Gruppe erzielt, so verstärkte sich das wohlige Gefühl sogar noch. Schließlich wurde die Jagd an sich zu einer Verkettung von so angenehmen Empfindungen, dass zwar die Notwendigkeit, Beute zu machen, nicht in den Hintergrund geriet, aber doch die Anstrengungen, die Angst, die Entbehrungen und die Möglichkeit, bei dem Unterfangen selbst auf der Strecke zu bleiben, billigend in Kauf genommen wurden. Zu guter Letzt wurden die erfolgreichsten Jäger auch noch mit höherem sozialem Status entlohnt und pflanzten sich mit größerem Erfolg fort als solche mit weniger Jagdtrieb und/oder Jagderfolg.
Suchtfaktor Jagd
Kennen Sie das Gefühl, dass Sie nach längerer Jagdabstinenz einfach nur raus wollen? Dass sich nach erfolgreicher Erlegung ein kaum in Worte zu fassendes Glücksgefühl einstellt? Und dass Sie die Jagd mit Freunden einem einsamen Ansitz vorziehen? Selbst die Jagd nach den größten, stärksten Individuen lässt sich evolutionär erklären, und zwar mit der wissenschaftlichen „Angeber“-Theorie. Sie besagt, dass die Erlegung von starkem, imposantem Wild mehr soziale Aufmerksamkeit generiert und so die soziale Stellung des Jägers erhöht, wodurch er sich erfolgreicher fortpflanzen kann.
Evolutionär bedingt
Alles Überbleibsel aus der Menschwerdung. Ebenso wie die Sehnsucht nach der Jagd an sich. Sie hat durch den Hormoncocktail, den unser Gehirn ausschüttet, wahrlich Suchtfaktor. Es soll sogar Leute geben, die sich eine nichtstoffgebundene Sucht attestieren lassen, um der Geliebten beweisen zu können, dass sie gar nicht anders können, als hinauszugehen. Und das ist gar nicht so weit hergeholt.
Neandertaler oder moderner Mensch – beim Jagdtrieb gibt es kaum Unterschiede
Wir modernen Menschen unterscheiden uns kaum von unseren jagenden und sammelnden Vorfahren vor 300.000 Jahren. Unser Gehirn funktioniert noch genauso, wie es damals funktioniert hat. Und das ist ganz leicht zu erkennen. Erregende Situationen führen, wenn sie keinen negativen Ausgang nehmen, zu einer Ausschüttung von Glückshormonen, die wiederum motivieren, die Situation zu wiederholen. Diese Situationen bezogen sich in der afrikanischen Steppe hauptsächlich auf Jagderfolg, dem Entkommen eines Raubtiers, dem Finden eines Partners und das Triumphieren in innerartlicher Konkurrenz. Mit anderen Worten: Wenn wir Erfolg hatten, der uns dem Überleben und Fortpflanzen näherbrachte, waren wir glücklich. Und damit wir uns auch redlich anstrengen, diese Glücksmomente zu erreichen, hat uns die Evolution mit dem Drang ausgestattet, zu überleben und das Beste daraus zu machen.
Ersatzhandlungen für den Jagdtrieb
Heute müssen wir uns selten gegen Löwen verteidigen, nachbarschaftliche Konflikte klären wir nicht mehr mit der Keule und nicht alle potentiellen Partner sind vom 18-Ender so beeindruckt, dass sie sich mit uns paaren wollen. Unsere moderne Gesellschaft gibt uns andere Kanäle, einen gewissen Zustand der Erregung zu erreichen, der zur Ausschüttung von Glückshormonen führt und so unseren Trieb befriedigt. So lässt sich beispielsweise die Begeisterung für Sportarten wie Fußball erklären. Das Mitfiebern mit einer Mannschaft suggeriert unserem Gehirn eine Jagdsituation, sehen wir uns das Spiel mit Freunden an, so stellen wir eine Jagdgesellschaft dar, und die Freude nach einem Sieg ist nichts anderes als die Freisetzung von Glückshormonen nach einem erfolgreichen Jagdtag.
Unser Gehirn funktioniert!
Ebenso wie der Frust, der sich einstellt, wenn man auf einem Abstiegsplatz herumdümpelt. Dass es sich nur um ein Spiel handelt, weiß unser Urzeitgehirn nicht und spult einfach das ihm altbekannte Programm ab. Es gibt zahlreiche solcher Beispiele. So haben Forscher das Konsumverhalten bei Sonderangeboten untersucht und festgestellt, dass auch hier ein ganz ähnliches Programm im Gehirn abläuft wie auf der Jagd, inklusive verschiedenen Stufen der Erregung mitsamt Adrenalinausstoß.
Der Jagdtrieb beim Kind
Ganz real ist auch heute noch zu erkennen, dass wir nicht nur von Jägern abstammen, sondern auch immer noch Jäger sind. Mitte der 1990er Jahre sorgte Thom Hartmann für Furore, als er mit seinem Buch über die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung ADHS erstmals gegen die bis dahin gängige Meinung rebellierte, es handle sich um eine kindliche Entwicklungsstörung. Er verglich Verhaltenszüge, die von Vorteil für eine jagende und sammelnde Lebensweise waren, mit denen von Kindern und Erwachsenen, denen eine solche Verhaltensstörung diagnostiziert wurde. Sein Hauptargument lag in der Fähigkeit zum sogenannten Hyperfokus, also dem völligen Absorbiertwerden in einer spannungsgeladenen Situation, die auch bestimmten ADHS-Patienten zu eigen ist.
Überbleibsel der Vergangenheit
Hartmann wertete dies als Überbleibsel aus unserer Vergangenheit, als eine solche Fähigkeit von entscheidendem Vorteil war, um erfolgreich zu jagen. Zunächst belächelt, erfährt Hartmann’s Theorie mittlerweile Untersützung durch wissenschaftliche Untersuchungen. Zum einen, weil ein Gen, dass mit ADHS assoziiert wird, für eine Variante eines Dopaminrezeptors kodiert und auch mit sogenannten Adrenalinjunkies in Verbindung gebracht wird. Zum anderen, weil dieses Gen in noch heute nomadisch, als Jäger und Sammler lebenden Völkern viel häufiger vorkommt als in der sesshaften Bevölkerung.
Menschen haben einen Jagdtrieb – Gut so!
Die Jagd hat uns nicht nur zu dem gemacht, was wir sind, sie ist auch immer noch ein Teil von uns. Natürlich könnten wir diesen Trieb beim Fussball oder Shopping befriedigen, aber warum sollten wir?
Waidmannsheil!