Rotwild – genetisch gefangen

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Es braucht klare Vorgaben zur artgerechten Jagd und Hege dieser Wildtierart. (Foto: Pixabay)

Das Rotwild wird durch Politik, Zersiedlung und Jagd immer weiter in den genetischen Abgrund getrieben. Landet es bald auf der Roten Liste? Wir haben Prof. Dr. Dr. habil. Gerald Reiner zu aktuellen Rotwildproblemen befragt.

Aufgrund der immer häufiger auftretenden Missbildungen beim Rotwild erreichen uns vermehrt Bilder und Videos die zeigen wie der einstige König des Waldes nach und nach durch den Mensch und dessen Nutzung der Kulturlandschaft leidet. Wir haben mit dem Wildbiologen Prof. Dr. Dr. Reiner aus Gießen über genetische Verarmung, ungesehene Missbildungen und zukünftige Bejagungsstrategien für unser Rotwild gesprochen.

Redaktion: Wie kann man genetische Missbildungen von Unfallschäden am verendeten Stück unterscheiden?

Prof. Reiner: Die Missbildungen die uns vorliegen, zeigen alle Abweichungen, die bei gut untersuchten Tierarten als genetische Defekte beschrieben sind. Hätten wir mehr Proben könnten wir Abweichungen in der Rotwildgenetik exakter beschreiben. Die betroffenen Tiere unterscheiden sich statistisch erheblich von gesunden Tieren hinsichtlich ihres Inzuchtgrades. Dabei kommen die Missbildungen nicht direkt durch die Inzucht, aber ihre Ausprägungswahrscheinlichkeit nimmt mit höheren Inzuchtgraden zu, weil das betroffene Tier das defekte Gen sowohl vom Vater, als auch von der Mutter geerbt haben muss.

Was für Missbildungen sind ihnen bekannt?

Prof. Reiner: Die meisten Missbildungen sind im Kopfbereich. Das häufigste ist eine Unterkieferverkürzung. Aber auch schiefe, nach links oder rechts verbogene Schädel sehen wir immer häufiger. Lippenspaltungen, also nicht schließende Lippen, kommen ebenfalls vor. Nicht ausgeprägte Augen oder Nasen waren bisher selten, traten aber auch schon auf. Aktuell stellen wir nun zusätzlich Kyphosen („Rückenbuckel“) fest, das liegt aber nicht an mechanischer Beschädigung. Es liegt, und das kann man mittels Computertomographie (CT) sehr gut erkennen, daran, dass die Rückenwirbel nicht würfelförmig, sondern keilförmig ausgebildet sind. Das momentan spektakulärste ist jedoch die „Epitheliogenesis imperfecta“, das bedeutet, dass die Haut insgesamt nicht richtig ausgebildet ist, weil ein
Gendefekt vorliegt. Auch die Klauen sind von diesem Defekt betroffen. Die Tiere laufen dann teilweise auf ihrem rohen Fleisch. Was diesen Tieren widerfährt ist schon als hochgradige Tierquälerei anzusehen. Auch alle anderen Missbildungen stellen letztlich unnötige Schmerzen, Leiden und Schäden dar, weshalb es auch im Interesse der Jägers sein sollte sich für diese Thematik zu interessieren und einzusetzen.

Kann man aufgrund der vorhandenen Missbildung auf den Inzuchtgrad schließen?

Prof. Reiner: Nicht direkt, die Missbildung ist nur eins von vielen Symptomen der Inzucht und stellt die Spitze des Eisbergs dar. Damit eine Missbildung entsteht muss von Vater und Mutter das gleiche, durch Inzucht entstandene, Defektgen geerbt worden sein. Die Population ist zu dem Zeitpunkt also schon von dem Defektgen durchsetzt. Tückisch ist, dass man es den Elterntieren nicht ansieht und das defekte Gen sich so erst in der ganzen Population verbreiten kann, bevor auffällt wie stark sie von Inzucht betroffen ist. Wenn nur ein Elterntier das defekte Gen hat entsteht keinerlei Schäden, weil das funktionierende Gen vom anderen Elterntier die Aufgabe vollständig übernimmt. Je weiter die Inzucht fortschreitet, desto höher wird jedoch sie Wahrscheinlichkeit, dass beide Elterntiere das defekte Gen in sich tragen und das Kalb dann erkrankt.

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Die Missbildungen des Kalbs sind die Auswirkungen jahrelanger Inzucht. (Foto: Privat)

Was für Missbildungen sind noch möglich?

Prof. Reiner: Die Missbildungen sind letztlich nur ein Anzeiger dafür, dass Defektgene über die Inzucht miteinander kombiniert wurden. Nachhaltig größere Schäden, die wir allerdings nicht mitbekommen, sind Schäden in Fruchtbarkeit, Vitalität und Anpassungsvermögen der Tiere. Die Kälberverluste im ersten Lebensjahr können, aufgrund von Inzucht von 30 auf 80% ansteigen. Und von diesen Effekten sind deutlich mehr Tiere betroffen als von
Missbildungen. Die Auswirkung, die wir dann sehen könnten wäre, dass Jahr für Jahr weniger Kälber geboren werden oder die Jagdstrecken einbrechen. Insofern sind die eigentlichen Missbildung eher weniger interessant. Sie weisen aber auf zu hohe Inzuchtgrade hin, die sich dann im Verborgenen negativ auf Vitalität und Fruchtbarkeit auswirken. Und genau dieser Aspekt ist wirklich besorgniserregend.

Ist ein starker Hirsch genetisch erhaltenswürdiger als ein schwacher?

Prof. Reiner: Der lang festsitzende Gedanke geweihstarke Hirsche würden automatisch auch geweihstarke Nachkommen erzeugen, ist in unseren Populationen nicht haltbar. Die Geweihausprägung unterliegt einem polygenen Erbgang und hängt viel stärker von Umweltbedingungen ab als von den direkt beteiligten Genen. Die vermeintliche Hege zu besonders großen und schweren Geweihen durch genetische Selektion funktioniert in Wahrheit nicht. Hierzu gibt es einige eindeutige Studien aus Schottland und Ungarn und auch Ergebnisse aus unseren Bereichen. Letztlich sind es der Lebensraum, die Futtergrundlage (einschließlich der Mineralstoffversorgung) und die Vitalität des Individuums, die für die Geweihqualität verantwortlich sind. Lediglich indirekt ergibt sich ein
Zusammenhang zwischen Genetik und Geweihaufbau von dem die „Geweihgene“ allerdings nicht betroffen sind. Ingezüchtete Tiere mit schlechter körperlicher Verfassung können weniger Nährstoffe umsetzen und bauen deshalb ein schlechteres Geweih auf, als es ihnen genetisch möglich wäre. Somit kann durch deren Abschuss die körperliche Verfassung und Gesundheit der Population und damit indirekt auch die Geweihbildung im vorgegebenen genetischen Rahmen verbessert werden – das hat nichts mit genetischer Selektion auf größere Geweihe zu tun. Es macht jagdlich absolut Sinn, Hirsche mit schwächeren Geweihen zu erlegen, um damit Tiere schlechterer Vitalität und höherer Inzuchtgrade zu entnehmen.

Was würde eine Wiedervernetzung der Rotwild-Lebensräume genau bringen?

Prof. Reiner: Das Aufheben der Rotwildfreien Gebiete und eine Wiedervernetzung der Lebensräume ist sehr wichtig für den genetischen Austausch der Tiere. Ziel ist: die isolierten Rotwildgebiete über zugängliche und geschützte Korridore wieder zu verbinden. Das würde bei gleicher Stückzahl zu höherer genetischer Vielfalt und gesünderen Beständen führen. Es geht also nicht darum, mehr Rotwild zuzulassen, sondern die genetische Qualität der Tiere in den Populationen durch genetischen Austausch und damit Senkung der Inzucht zu verbessern. Es geht auch nicht um die Ansiedlung neuer Rotwildpopulationen, sondern um die Erlaubnis der Hirsche, im Alter von 2 bis 5 Jahren, ihre Gene von Population A zur Population B tragen und dort als Brunfthirsch einbringen zu können.

Was halten sie von Baden-Württembergs Idee das Rotwild einzufangen, um es in einer anderen Population auszusetzen?

Prof. Reiner: Aus ethischen sowie aus wissenschaftlichen Gründen ist so ein Gedanke problematisch. Ich will nicht ausschließen, dass es Populationen gibt, die durch Zersiedlung und Verkehrswege so stark voneinander abgeschnitten sind, dass eine natürliche Vernetzung tatsächlich nicht mehr möglich ist. Aber das gilt dann nicht nur fürs Rotwild, sondern für das gesamte Ökosystem. Der Erfolg ist dennoch fraglich, da es aus mathematisch-statistischen Gründen etliche Tiere braucht, die regelmäßig ausgetauscht werden, um die genetische Situation tatsächlich zu verbessern. Diese Tiere müssen dann aber auch erfolgreich an der Brunft teilnehmen, d.h. sie müssen unbedingt überleben, sich anpassen und sich im neuen Gebiet zurechtfinden, was bei ähnlichen Versuchen in der Vergangenheit sehr häufig fehlschlug. Insgesamt haben wir beim Rotwild aber noch nicht die Situation erreicht, ab der nur noch
Reproduktionsbiotechnologie verspricht, die Reste einer Art zu erhalten und deren Aussterben hinauszuzögern. Noch haben wir genügend Tiere in den Populationen mit vernünftiger Genetik und Inzuchtgrad. Die Natur kann sich noch selbst helfen und das sollten wir in jedem Falle fördern, wenn wir sie nicht in ein gemanagtes Wildparksystem überführen wollen. Ich meine wir sind dazu ethisch verpflichtet. Die Wiedervernetzung der Ökosysteme und die Schaffung und der Ausbau von Wanderkorridoren ist durch nichts zu ersetzen – nicht nur fürs Rotwild. Ein weiterer wichtiger Punkt ist auch, dass der Artbegriff in Sinne der Biodiversität von einer Vielzahl, ökologisch optimal angepasster Teilpopulationen getragen wird, die den Gesamtgenpool ausmachen. Es wäre also kontraindiziert für eine vermeintliche Gen-Auffrischung Hirsche etwa aus Ungarn oder Schottland einzuführen.

Was ist bei der Rotwildbejagung zu beachten?

Prof. Reiner: Oberste Priorität hat eine vernünftige Sozial- und Altersstruktur sowie das Geschlechterverhältnis beim Rotwild. Das ist nichts Neues und sollte bei der Bejagung immer bedacht werden. Bejagen wir die jungen Hirsche, vermindern wir die später zur Brunft verfügbaren alten Hirsche. Die vom Abschuss
verschonten weiblichen Zuwachsträger tun alles dafür Kälber zu kriegen und paaren sich alle mit den wenigen übrig gebliebenen Hirschen. So nehmen Rotwildbestände und Schäden zu und die Inzuchtproblematik wird extrem verschärft. Hirsche zwischen 2 und 5 Jahren müssen geschont und stattdessen Alt- und Schmaltiere bejagt werden. Außerdem verteilt sich das genetische Material durch die Abwanderung der jungen Hirsche. Am Brunftplatz braucht es mehrere alte Hirsche. Einer oder nur wenige vertiefen die Inzucht, mehrere wirken ihr entgegen. Statt Jagd nach dem Gießkannenprinzip müssen die standorttreuen weiblichen Zuwachsträger direkt im Schadensgebiet bejagt werden. Ansonsten ist kein effizienter Rückgang der Schäden zu erwarten. Das Wild braucht Ruhezonen, Ruhezeiten und Jagdruhe, weil ansonsten keine Lenkung aus der Naturverjüngung auf die Äsungsflächen zu erwarten ist. Mehr Schäden entstehen und es muss erneut stärker bejagt werden – ein Teufelskreis. Für den Erhalt gesunder Rotwildpopulationen brauchen wir auch ein Umdenken in der
Jägerschaft. Wenn junges männliches Rotwild genetischen Austausch betreibt, sollte der nicht mit der Argumentation unterbrochen werden, dass ihn ja sonst sowieso der Nachbar schießt.

 

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Können wir als Jäger helfen, indem wir Proben einschicken?

Prof. Reiner: Auf jeden Fall. Wann immer irgendwo ein verdächtiges Tier auftritt und erlegt wird sollten Proben vom betroffenen Kalb und von dessen Mutter gesammelt, eingefroren, beschriftet und dann zu uns geschickt werden. Mit Hilfe der so entstehenden Gendatenbank hoffen wir die Defekte entschlüsseln und Gentests aufbauen zu können, die dann letztlich wieder zur Beurteilung von Populationen herangezogen werden können. Am besten ist es, wenn zusätzlich auch Bild- oder Filmmaterial von den Tieren mitgesendet wird. Anhand vorhandener Proben kann, je nach Bundesland auch sichergestellt werden, aus welcher Region eine neue Probe stammt. Für Hessen und NRW können wir ziemlich genau zuordnen aus welcher Population die Probe entnommen wurde.

Was für Probenmaterial benötigen sie?

Prof. Reiner: Das ist fast egal, da die DNA ja in jeder Zelle vorhanden ist. Gut eignet sich die Milz, aber auch andere innere Organ. Einfach ein pflaumengroßes Stück rausschneiden und in eingefrorenem Zustand zu uns schicken.

Welche Chance hat das Rotwild noch?

Prof. Reiner: Noch stehen die Chancen gut, aber der Weg zur Bedrohung über ingezüchtete Teilpopulationen ist eingeschlagen. Die entsprechenden Daten liegen für mehrere Bundesländer schwarz auf weiß vor. Nach Roter Liste gelten Arten mit häufigem Vorkommen und weiter Verbreitung als ungefährdet – solange ihre Populationen nicht voneinander isoliert sind. Aber genau hier liegt das Problem. Die Verantwortlichen müssen diese neuen Tatsachen akzeptieren und Gegenmaßnahmen ergreifen. Rotwild ist nicht in erster Linie Schädling, sondern ein Eckpfeiler der Biodiversität, der an vielen Orten durch Isolation in Schieflage geraten ist. In Zeiten weit offenen Ermessensspielraums für die Jagdausübungsberechtigten ist die negative Entwicklung nicht aufzuhalten. Es braucht endlich wieder klare Vorgaben zur artgerechten Jagd und Hege dieser Wildtierart.